JGS-Buchtipp: “Unverfügbarkeit” von Hartmut Rosa

Hartmut Rosa, Soziologieprofessor aus Jena, plädiert in seinem Buch “Unverfügbarkeit” leidenschaftlich dafür, auch in postmodernen Zeiten und Gesellschaften, nicht alles verfügbar machen zu wollen, sondern in einer fruchtbaren Spannung zwischen Verfügbarem und Unverfügbarem zu leben.

Ihm sei aufgefallen, argumentiert Rose, dass sich die Glückserfahrungen und Sehnsüchte immer auf die Grenzlinie beziehen zwischen dem, was wir im Griff haben und dem, was wir nicht im Griff haben. “Nehmen wir ein so banales Ding wie Fußball. Da stellt sich nun heraus, dass man Erfolge nicht kaufen kann. Große Mannschaften verlieren noch immer gegen kleine. Solche Momente der Unverfügbarkeit machen das Leben erst lebenswert und interessant.”

Man könnte durchaus daraus die Schlussfolgerung ziehen, dass der sogenannte Videobeweis diesem wunderbaren Sport genau das nimmt, was ihn ausmacht, dieses Quantum Unberechenbarkeit und diese Prise Unauflösbarkeit.

Was Rosa damit meint, macht er dann an einem anderen Beispiel deutlich: “Seit Kindertagen bin ich von Schnee fasziniert. Doch wann es anfängt zu schneien, ist ein Moment der Unverfügbarkeit. Man kann es nicht erzwingen. Es kommt wie ein Geschenk und verwandelt die Welt. Nimmt man Schnee in die Hand, zerrinnt er.

Als Kind wollte ich ihn in der Gefriertruhe konservieren. Aber dann hört es auf, Schnee zu sein. In Skigebieten versucht man heute mit Schneekanonen nachzuhelfen. Wir wollen Dinge verfügbar machen, um dann, wenn die Zeit gekommen ist, damit in Resonanz zu treten. Dann verliert es aber genau diesen attraktiven Moment, und ich gefährde die erhoffte Beziehung.”

Oder ein Beispiel aus der Musik: Igor Levit, ein berühmter klassischer Pianist und Beethoven-Interpret antwortete kurz und knapp auf die Frage, ob er die Mondscheinsonate überhaupt noch hören könne, weil er sie tausend Mal gespielt habe: “Jedes Mal klingt es anders.” Denn das Stück entzieht sich ihm fortwährend, so Rosa. “Dadurch macht er immer neue Erfahrungen. Das ist sein Glück. Doch wir haben das verlernt.”

Rosa versteht sich als Wissenschaftler und konstatiert, er wolle kein Ratgeber sein. Dennoch: “Alles was wir tun, entspringt einer Sehnsucht nach Resonanz. Wir möchten uns als lebendig erfahren, in dem wir uns berühren lassen und in Kontakt treten. Heute wird das in der Werbung instrumentalisiert – für eine Objektbegierde. Versprochen wird eine Begegnung, verkauft aber eine Ware. Was wir aber brauchen, ist eine andere Weise des Begegnens. Nicht kontrollieren und beherrschen, sondern in Kontakt treten. Ein vibrierender Draht zwischen uns und der Welt. Eine Haltung des Hörens und Antwortens, statt des Beherrschens.”

Seine These ist, dem Ereignis der Resonanz sei immer auch ein Moment der Unverfügbarkeit eigen. Der Mensch von heute zerstöre zunehmend genau das, was unverfügbar bleibe solle, indem er es erreichbar und kontrollierbar machen wolle.

Wer noch etwas tiefer in die Materie einsteigen und der Frage nachgehen will, wie man dieses Dilemma auflösen könnte, kann das mit der Lektüre des Buch “Unverfügbarkeit” von Hartmut Rose tun.

Es ist im Residenz Verlag erschienen und kostet 19 Euro.

Foto: Juergen Bauer/dpa 

Zitate aus einem Interview, das Hannes Soltau mit dem Autor geführt hat.

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