Literaturkritik auf dem absteigenden Ast?

In einem in Fachkreisen vielbeachteten Artikel schreibt der promovierte Germanist Rainer Moritz, dass die heutige Literaturkritik handzahm geworden sei. Sie solle aber die Spreu vom Weizen trennen, wenn sie ihren Namen auch verdienen wolle, und argumentativ aufzeigen, warum manche Bücher mit Literatur nichts zu tun haben. Da sollten wir mal etwas genauer hinzuschauen:

Heute genüge es, mit dem Autor eines 800-Seiten-Romans durch Istanbul zu schlendern, ein bisschen zu plaudern und ein Fernsehteam dabeizuhaben, statt das Mammutwerk auf Stärken und Schwächen abzuklopfen. Atmosphäre statt Kritik, nennt Moritz das und spielt auf Literaturansager wie Scheck an, die für das öffentlich-rechtliche TV um die Welt reisen, um ein paar matte Minuten Sendezeit zu füllen, ohne auch nur eine einzige kritische Frage an den Autor im Gepäck zu haben.

Auch sein Kollege Mangold kommt bei Moritz nicht gut weg. Über dessen hymnisches Statement, wonach “kein Millenial künftig mehr einen Roman schreiben könne, ohne sich zu Leif Randts ‘Allegro Pastell’ zu verhalten”, freuten sich die Verlage, so Moritz weiter, doch wenn das Lob jeden Masstab verliere, verliere es auch seine Glaubwürdigkeit.

Wer Randts Buch gelesen hat, versteht gut, was Moritz damit meint. Wenn schon Mittelprächtiges mit meilensteinsetzenden Superlativen ausgestattet werde, bleibt für wirklich Erlesenes kaum mehr das angemessene Wort.

Sein Anspruch ist legitim: “Wie ich von Gastrokritik erwarte, dass sie mich vor mediokren italienischen Restaurants warnt, wo Geschmacksverstärker eingesetzt und Karotten verkocht werden, muss die Literaturkritik das Schlechte schlecht nennen, auf dass sich das Gute besser erkennen lässt.”

Und noch eine weitere Tendenz meint Moritz in der derzeitigen Literaturkritik erkannt zu haben. Statt auf feinsinnige ästhetische Wertungen zu setzen, befragten Kritiker heutzutage Literatur inzwischen mehr auf ihre gesellschaftliche Relevanz. Als eklatantes Beispielt führt er an, dass eine Frankfurter Sonntagszeitung vor 6 Jahren Dave Eggers’ Internetroman “Der Circle” acht Seiten gewidmet habe, “ohne sich einen Moment lang darum zu kümmern, dass es sich literarisch um ein Werk von erschreckender Dürftigkeit handelte.”

Ein Kollege, der Münsteraner Germanist Moritz Baßler, hat seinerseits erst vor kurzem auf die fatalen Folgen von blinder Akklamation hingewiesen: “Ambivalenz verschwindet hinter falschem Humanismus.” Ob dem so ist, wird weiter ganz genau zu beobachten sein.

Foto: Popo le chien

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