Reichen 350 Wörter für eine gute Kurzgeschichte?

Kann man mit gerade mal 350 Wörtern eine gute Kurzgeschichte mit Pfiff, Ambiguität und Aussage schreiben?

Man kann, wenn man etwa Peter Bichsel heißt. Ihm genügen diese kargen 350 Einheiten, um die Kurzgeschichte “San Salvador” zu erstellen, die 1963 erst in der NZZ erschien und dann als Teil der Kurzgeschichtensammlung “Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann sehen” veröffentlich wurde, mit der der junge Schweizer Autor den Durchbruch zum erfolgreichen Schriftsteller schaffte.

„Mir ist es hier zu kalt. Ich gehe nach Südamerika. Paul”. Diese paar Zeilen schreibt der Protagonist an seine Ehefrau Hildegard mit einem frisch gekauften Schreibgerät. Doch die so erzeugte Erwartungshaltung des Lesers, dass Paul sich tatsächlich aus dem Staub machen und auf die Bahamas absetzen oder nach Argentinien oder El Salvador auswandern könnte, wird nicht bedient.

Wer einen solchen Plan hat und ihn umsetzen will, packt seine Koffer und liest nicht seelenruhig die Kinoanzeigen in der Zeitung. Immerhin stellt Paul sich vor, wie seine Frau reagieren würde, wenn sie den Zettel fände und er tatsächlich weg wäre. Sie würde sich wohl die Haare aus dem Gesicht streichen und in seiner Lieblingskneipe anrufen. Dem Leser wird zunehmend klar, dass es sich eher um eine Schreibprobe als um einen ernsthaften Fluchtplan handelt.

Als Hildegard schließlich von der Kirchenchorprobe heimkommt, tut sie genau das, was Paul vermutet hat. Sie streicht sich die Haare aus dem Gesicht und fragt: “Schlafen die Kinder?” Mit dieser Frage endet Bichsels minimalistische Geschichte.

Ein guter Text wirft Fragen auf, etwa diese: Ist Hildegards Frage nur als routinemäßige Floskel oder eher als Aufruf an Paul, dass – wenn dem so wäre – die Eheleute nun endlich Zeit für einander hätten, gemeint?

Und: Ist die Tatsache, dass Hildegard genau die Handbewegung macht, von der Paul erwartet hatte, dass sie sie machen werde, ein Zeichen für erstarrte Langeweile oder für große Vertrautheit?

Die Literaturkritik reagierte unterschiedlich. Klaus Zobel schrieb einen Verriss, Marcel Reich-Ranicki hingegen brach in der ZEIT eine Lanze für das Stück: “Endlich jemand, der keine Originalität anstrebt, der nicht nach Effekten jagt und uns nicht mit stilistischen Kapriolen überrumpeln will, “der nicht gewaltsam versucht, mit der Sprache aufzutrumpfen. (…) Aber man kann dieser Prosa eine, wie mir scheint, wichtigere Eigenschaft nachrühmen, der man in der heutigen deutschen Literatur nur in Ausnahmefällen begegnet: die Anmut der Natürlichkeit.”

Auch Rolf Jucker erkannte das Potential der Kurzgeschichte und konstatierte, dass die Verknappung von Bichsels Prosa die Möglichkeiten der Geschichte hervorhebe. Beide Varianten seien denkbar, der Leser solle nicht nur eine festgefahrene Lesart durchspielen. Bichsel beschäftige sich nicht “mit der Wahrheit, sondern mit den Möglichkeiten der Wahrheit.”

San Salvador ist die 15. von insgesamt 21 Kurzgeschichten in “Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen” und kostet als E-Book 6,99 Euro.

Foto: randreu

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