Trendwende: Literatur und Landleben

In den 1920er-Jahren war der damals neue Großstadtroman das Maß der Dinge in der Literatur: Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz, John Dos Passos Manhattan Transfer oder James Joyces Ulysees setzten sich intensiv mit dem Leben in den Metropolen Berlin, New York oder Dublin auseinander. Heute – 100 Jahre später – zeigt sich ein ganz gegenteiliger Trend. Die erfolgreichsten zeitgenössischen Romane spielen nicht in den Städten, sondern auf dem flachen Land. Grund genug, da mal etwas genauer hinzuschauen:

Spätestens mit Juli Zehs Erfolgsroman Unter Leuten ist das ländlich-dörfliche Milieu in der deutschen Literatur wieder salonfähig geworden. Der Roman wurde verfilmt und lief gleich zweimal innerhalb kürzester Zeit im öffentlich-rechtlichen TV. Hier prallen kernige und kantige, keinesweg stets sympathische Kerle und Großstadtflüchtige auf gewiefte, meist geschäftstüchtige, mitunter gerissene Frauen, allezeit nach Wegen für den eigenen Vorteil suchend. Das führt zu munteren Szenarios, bedient auch das Unterhaltungsbedürfnis und wird dezent mit einer kleinen wohldosierten Prise Gesellschaftskritik versetzt. Das Rezept geht auf, die Nachfrage nach solchen Stoffen nimmt zu.

Auch Judith Hermann bedient mit ihrem Roman Daheim dieses en vogue gekommene Genre. Die Ich-Erzählerin hat ihren Mann verlassen und ein altes, heruntergekommenes Haus an der Küste gemietet. Hier begegnet sie einer wilden Ursprünglichkeit durch ihre Nachbarin Mimi, die gern auch mal nackt durch den Garten springt, und dem Bauer Arild, der gar nichts groß sagen muss und sie doch anzieht.

Kann man anhand eines Dorfes die ganze Welt erzählen? Angelika Klüssendorfs soeben erschiener Roman Vierunddreißigster September spielt auch in einem ostdeutschen Dorf. Alle Kapitel sind mit den Vornamen der Dorfbewohner überschrieben, das sind lauter urige Leute, oft Abgehängte und seit dem Fall der Mauer Unter-die-Räder-Gekommene, die sich durchzuschlagen versuchen.

Die meist leicht idealisierte Überschaubarkeit der dörflichen Gemeinschaft erweist als attraktiver Gegenpol zu einer unübersichtlich gewordenen, globalisierten und pandemiegeprägten Welt, auch wenn sie in den genannten Romanen kaum über die Darstellung traditionell aufgeladener Steoreotypen und Klischees hinauskommt.

In einer tief verunsicherten Gegenwartsgesellschaft sind solche Nischen wohl kaum mehr verzichtbar geworden. Als Beitrag zur Lösung der wirklich großen Fragen unserer Zeit taugen sie dagegen nicht.

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