Lernen in der virtuellen Druckverarbeitungswerkstatt

Die Lehrkräfte Stephanie Winkler, Marc Thomas und Andreas Hack an der Johannes-Gutenberg-Schule in Stuttgart entwickelten einen neuen Ansatz für den beruflichen Werkstattunterricht.

Lehrkräfte Marc Thomas und Andreas Hack

Unterschiedliche schulische Vorbildung der Auszubildenden sowie heterogene Leistungsniveaus und Leistungsbereitschaft verbunden mit Sprachdefiziten, vielfältige Gegebenheiten in den Ausbildungsbetrieben – diesen spannenden Herausforderungen müssen sich Lehrkräfte an der Berufsschule im Bereich Druckverarbeitung stellen.

Mit Beginn der Pandemie und des damit verbundenen ersten Lockdowns konnte im Theorieunterricht schnell auf Lernmanagementsysteme wie Moodle und Microsoft Teams zurückgegriffen werden. Dass diese Systeme für den Werkstattunterricht nur bedingt geeignet sind, liegt auf der Hand: Unter normalen Umständen arbeiten die Auszubildenden in Kleingruppen an den unterschiedlichen Druckverarbeitungsmaschinen. Ein Fernunterricht per Videokonferenz an einem einzelnen Aggregat ist technisch schwer umsetzbar und pädagogisch wenig sinnvoll.

Unser Ziel hatten wir daher schnell definiert: Die Erstellung eines virtuellen Unterrichtsraumes, den die Auszubildenden über ein digitales Endgerät betreten und dabei Inhalte abrufen können. Da die meisten Lehrkräfte keine gelernten Softwareentwickler sind, sollten Erstellung und Zugänglichkeit niederschwellig und für ein breites Kollegium verständlich sein. Dabei haben wir uns bei einem bestehenden Konzept aus dem Immobilienbereich bedient und dieses nach unseren Anforderungen und Wünschen erweitert.

Das ist die Vorgehensweise: Zunächst wird ein 360-Grad-Foto eines realen Werkstattraums aufgenommen. Als Kamera eignet sich ein normales Smartphone mit entsprechender App, z. B. Google Street View. Für eine professionellere Umsetzung kann auch eine spezielle 360-Grad-Kamera genutzt werden. Wir verwenden das Modell MAX des Herstellers GoPro. In diesem Foto wird an den relevanten Stellen, beispielsweise für die Erklärung einer Detail-Einstellung, ein virtueller Inhalt hinterlegt oder verknüpft. Je nach Unterrichtseinheit können dessen Darstellungsformen variieren. Es bieten sich Texte, Bilder, Grafiken, Videos, 3D-Modelle etc. an. Diese zu verknüpfen, geschieht in wenigen Schritten über
ein webbasiertes Tool. Das Herunterladen einer Software ist in den meisten Fällen nicht erforderlich.
Wir empfehlen die kostenlose Basisversion des Anbieters ThingLink.

Nachdem unser virtueller Unterrichtsraum über einem Jahr im Einsatz ist, sind seine Vorteile – gerade für unsere Berufsschüler*innen – klar zu definieren:

– Es besteht ein permanenter virtueller Zugang zu den Werkstätten. Dies führt nicht nur während der Lockdowns, sondern auch im Modell des Blockunterrichts, zu positiven Lernerfolgen.

– Durch den gezielten Einsatz von digitalen Medien ist eine höhere Motivation erkennbar.

– Das eigenverantwortliche Arbeiten wird erleichtert. Je nach Erfahrung bzw. Leistungsfähigkeit kann das Lerntempo zeitlich individuell angepasst werden.

– Die Medienkompetenz wird gestärkt. Die fortschreitende Digitalisierung ist mittlerweile in den meisten Kleinbetrieben angekommen. Die Affinität der Auszubildenden gegenüber digitalen Medien kann in der Schulpraxis sinnvoll integriert und weiter ausgebaut werden. So lässt sich mit dem webbasierten Tool ThingLink der virtuelle Werkstattraum optional auch mit einer VR (Virtual Reality) -Brille öffnen und steuern. Die Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand erfolgt dadurch noch intensiver.

Obwohl die Grundidee des Konzeptes für die Zeit während der Lockdowns vorgesehen war, hat sich in den vergangenen Monaten gezeigt, dass die Integration in den Präsenzunterricht ebenfalls gewinnbringend ist. Da in den Werkstätten eine Lehrkraft mehrere Kleingruppen betreut, kommt es im Unterricht meistens zu zeitgleichen Fragen. Die Schüler*innen können die Wartezeit durch den Einsatz eines zur Verfügung gestellten digitalen Endgeräts sinnvoll nutzen, indem sie im virtuellen Werkstattraum die Videos zum Einstellen der Maschinen betrachten oder ihre Frage zum Problem selbstständig lösen können.

Einstellen einer Falzmaschine mithilfe digitaler Endgeräte

Gerade im Werkstattunterricht kann ein virtueller Unterrichtsraum das Lernen in der Schule vor Ort nicht ersetzen. Das Handwerk lebt von Wiederholungen der Handgriffe. Die Vermittlung der so wichtigen psychomotorischen Fertigkeiten kann dadurch nicht kompensiert werden.

Vor der Einführung der digitalen Medien im Unterricht ist die Erarbeitung eines didaktischen Konzepts erforderlich. Mediendidaktisch sollte auf eine begrenzte Einsatzzeit geachtet werden.

Die reflektierten Arbeitsphasen, durchgeführten Evaluationen, wie auch Prüfungsergebnisse zeigen uns, dass sich durch den gezielten Einsatz unseres Konzepts im Unterricht durchaus neue Chancen und Möglichkeiten für alle Beteiligten ergeben.

Text: Marc Thomas, Andreas Hack
Fotos: BFFo

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